Stehende Vorwärtsbeuge im Yoga: Solltest du die Beine strecken oder beugen?
Ein Biomechanischer Leitfaden für sichere Vorbeugen für Yogalehrer und -praktizierende
Einleitung
Namaste, liebe Yogis und Yoginis!
Heute tauchen wir ein in das faszinierende Thema der stehenden Vorwärtsbeugen und ihrer Auswirkungen auf unsere Körperhaltung. Vielleicht bist du bereits auf die Frage der Beinlänge während stehender Vorwärtsbeugen gestoßen. Ist es besser, die Beine vollständig zu strecken oder solltest du sie etwas beugen? Und wenn du sie beugst, wie stark sollte die Beugung sein? Bewirkt das leichte Beugen der Knie in einer Vorwärtsbeuge wirklich eine sicherere Haltung, wie es viele Lehrer lehren?
In diesem Artikel werden wir die verschiedenen Positionen erkunden und verstehen, warum weder das vollständige Strecken noch das leichtes Beugen der Beine aus biomechanischer Sicht eine echte Lösung für gesunde Vorbeugen darstellt. Begleite mich, Dr. Mareike Engel, während wir das Geheimnis von effektiven stehenden Vorwärtsbeugen, die der Körperhaltung angemessen sind, aufdecken.
Uttanasana-Ausrichtung nach B.K.S. Iyengar (vgl. „Light on Yoga“, p. 90)
Die stehende Vorwärtsbeuge, Uttanasana (Uttana = intensiv gedehnt, Asana = Position/Haltung), ist eine grundlegende Yogaposition, die oft als statische Haltung praktiziert wird, aber auch als Übergang, beispielsweise während des Sonnengrußes, geübt werden kann.
Traditionell wird in der Ausrichtung von B.K.S. Iyengar gelehrt, dass bei Uttanasana die Beine durch Anheben der Kniescheiben und Anspannen der Oberschenkel gestreckt werden und das Becken nach vorne geneigt wird, um die Oberschenkelmuskulatur zu dehnen. Selten wird diese Praxis jedoch genauer beleuchtet. Lerne daher im folgenden Abschnitt, warum die Iyengar-Ausrichtung in Uttanasana nicht für eine regelmäßige Yoga-Praxis geeignet ist
Solltest du deine Beine in der stehenden Vorwärtsbeuge komplett strecken?
Wenn du in Uttanasana mit gestreckten Beinen gehst, werden die Oberschenkelrückseiten gedehnt, sobald das Becken weiter nach vorne kippt, als es die natürliche Ruheposition der Oberschenkelrückseitenmuskulatur erlaubt. Dies führt normalerweise zu einem Dehnungsreiz, der von den meisten Yogapraktizierenden als positiv empfunden wird und als vorteilhaft für den Körper wahrgenommen wird. Allerdings bedeutet das angenehme Empfinden leider nicht automatisch, dass es auch sinnvoll für unseren Körper ist.
Je häufiger wir uns in die Dehnung der Oberschenkelrückseitenmuskulatur begeben, desto leichter fällt uns die Dehnung, und desto eher passen sich die Oberschenkelmuskeln an eine verlängerte Position in ihrer Ruhephase an. Für den Yogapraktizierenden bedeutet dies in der Regel, dass er oder sie tiefer in die Vorwärtsbeuge gehen kann, was oft als Erfolg empfunden wird. Das Problem hierbei ist jedoch, dass die ständige Verlängerung der Oberschenkelrückseitenmuskulatur ohne gleichzeitige Kräftigung dazu führt, dass das Becken mehr und mehr nach vorne kippt. Dies hat zur Folge, dass sich im Laufe der Zeit vermehrt ein Hohlkreuz bildet, da die Oberschenkelrückseitenmuskulatur, die an den Sitzbeinhöckern beginnt, zu lang und gleichzeitig zu schwach wird, um das Becken nach hinten zu stabilisieren.
Angesichts unseres modernen Lebensstils, der durch lange Sitzperioden, mangelnde allgemeine Bewegung oder repetitive Bewegungsabläufe (Fitnessstudio, Yoga, Sport usw.), Stress und Traumata geprägt ist, neigen wir bereits ohne Yoga dazu, ein Hohlkreuz zu entwickeln. Dies liegt daran, dass unser Lebensstil zu einer Verkürzung und Verspannung der Hüftbeugemuskulatur (Iliopsoas) und einer Abschwächung der Oberschenkelrückseitenmuskulatur führt. Durch das regelmäßige Dehnen der Oberschenkelrückseiten im Yoga wird die Vorwärtsneigung des Beckens begünstigt und führt zu einer verstärkten Lordose (Hohlkreuz) im unteren Rückenbereich. Die ausgeprägte Lordose ist ein sichtbares Anzeichen für die Vorwärtsneigung des Beckens. Yogapraktizierende mit einem Hohlkreuz können in Uttanasana oft problemlos mit den Handflächen den Boden berühren, da sie bereits in einer Position starten, in der das Becken nach vorne gekippt ist. Die ernüchternde Wahrheit lautet: Je tiefer du in eine stehende Vorwärtsbeuge gehst, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass du deine Körperhaltung beeinträchtigst!
Wenn du jetzt denkst, dass du sicher bist, weil du kein offensichtliches Hohlkreuz hast oder dich nicht tief in eine Vorwärtsbeuge beugen kannst, lies bitte weiter! Leider ist ein flacher Rücken und die Unfähigkeit, das Becken zu kippen, aus biomechanischer Sicht in den meisten Fällen sogar eine ungünstigere Position. Ein flacher Rücken ist faktisch ein Hohlkreuz, das zusätzliche Kompensationsmechanismen aufweist. Dies geschieht, wenn der Körper das Becken nicht mehr in der nach vorne gekippten Position halten kann, da er zu weit nach vorne kippt. Um dieses Ungleichgewicht „auszubalancieren“, neigt der Körper dazu, das Becken unter den Oberkörper zu schieben (manchmal auch durch bewusstes Einziehen des Bauches erreicht). Als Ergebnis entsteht ein flacherer unterer Rücken und eine ständige, leichte Beugung der Knie, selbst wenn die Person tatsächlich versucht, die Beine vollständig zu strecken.
In solchen Fällen gehen viele Yogalehrer und sogar einige Physiotherapeuten irrtümlicherweise davon aus, dass die betroffene Person dringend an der Verlängerung der Oberschenkelmuskulatur arbeiten muss, da die Fähigkeit zur vollen Beinverlängerung fehlt. Dieser Ansatz ist jedoch nicht zielführend, da die Oberschenkelrückseitenmuskulatur zwar in der Regel verspannt ist bei Menschen mit flachem Rücken, aber noch nicht ernsthaft verkürzt ist.
Solltest du von hier aus in eine noch tiefere Ebene der Kompensation gehen, landest du in einer Rundrücken-Position. Jetzt ist das Becken nach hinten gekippt, der untere Rücken ist zumeist ziemlich flach (nicht immer!), und das Becken wird nach vorne gedrückt, um vor den Fersen und Schultern zu sein. Diese Position ist etwas Besonderes, denn hier werden die Oberschenkelmuskeln (besonders die oberen Fasern) tatsächlich „verkürzt“ sein und die Hüftbeuger werden zu lang sein. Dies wird jedoch von den Gesäßmuskeln initiiert, die den Oberschenkelknochen und das Becken näher zusammenziehen, um zu verhindern, dass der Körper zu stark nach vorne fällt. Es gibt weitere Faktoren, die zu dieser Position führen, wie straffe vordere Bauchmuskeln, schwache seitliche Bauchmuskeln, Verspannungen im oberen Rücken- und Brustbereich, was ich in einem separaten Artikel weiter betrachten werde.
Die Botschaft dieses Artikels lautet, dass verkürzte Oberschenkelmuskeln nicht die Ursache dafür sind, dass Menschen einen flachen Rücken haben oder in einer Rundrücken-Position landen, sondern eine Folge. Die Spannung aus anderen Bereichen des Körpers führt zur Verkürzung der Oberschenkelmuskulatur, was wiederum das Vorwärtskippen des Beckens verhindert. Die eigentlichen „Verursacher“ sind andere Muskeln. Das Arbeiten an der Reaktionsfähigkeit der Oberschenkelmuskulatur, einschließlich Stärkung und sehr sanftem Dehnen (idealerweise mit gleichzeitiger isometrischer Anspannung), kann meiner Erfahrung nach bei einem Rundrücken und möglicherweise auch bei einem sehr flachen Rücken von Vorteil sein. Es gibt jedoch andere Muskeln, die in erster Linie behandelt werden müssen, um eine bessere Körperhaltung wiederherzustellen. Dieser Aspekt würde in einem ausführlichen Artikel über diese Positionen behandelt werden. An dieser Stelle sei lediglich kurz erwähnt, dass der Fokus für jemanden in einer Rundrücken-Position eher darauf liegen wird, die Rotationsfähigkeiten des Beckens und des Brustkorbs wiederherzustellen.
Egal, ob du einen flachen Rücken, einen Rundrücken oder ein Hohlkreuz hast, wenn du im Yoga eine Vorwärtsbeuge übst, wird das intensive Dehnen deiner Oberschenkelrückseitenmuskulatur nicht förderlich für deine Körperhaltung sein. Es wird lediglich kurzfristig dazu beitragen, das Gefühl von Verspannungen in den Oberschenkelrückseiten zu mildern. Für eine langanhaltende Veränderung ist es ratsam, an der Stärkung und Reaktionsfähigkeit der Oberschenkelrückseitenmuskulatur zu arbeiten, um dein Becken in eine neutralere Position zurückzuführen. Nun, da wir wissen, dass gestreckte Beine in Uttanasana nicht angemessen sind, werfen wir einen Blick auf das sanfte Beugen der Knie.
Ist es besser die Knie in der Vorwärtsbeuge zu beugen statt zu strecken?
Das behutsame Beugen der Knie, während das Becken weiter nach vorne geneigt wird, wird oft als sicherere Variation in Uttanasana empfohlen. Und in gewisser Weise ist das auch richtig, da es die Dehnung der Oberschenkelrückseitenmuskulatur, insbesondere der unteren Fasern, reduziert. Dennoch wird immer noch eine Dehnung der oberen Oberschenkelrückseiten vorhanden sein. Wenn diese Variation in sanfter Art und Weise ausgeführt wird und der Fokus auf der korrekten Ausrichtung der Zehen und Knie nach vorne sowie einer gleichmäßigen Neigung liegt, bin ich der Meinung, dass diese Variation für Personen in einer Rundrücken-Position, die einen sehr flachen unteren Rücken haben, von Vorteil sein kann. In dieser Position kann dann mit dem Vorwärts- und Rückwärtskippen des Beckens experimentiert werden, was für Menschen mit Rundrücken oft eine Herausforderung darstellt.
Für alle anderen jedoch empfehle ich diese Variation nicht, da sie dennoch eine Dehnung der Oberschenkelrückseitenmuskulatur mit sich bringt, was, wie zuvor beschrieben, keine positiven körperlichen Effekte hat. Wenn du nun darüber nachdenkst, wie du eine Vorwärtsbeuge auf eine körperlich vorteilhafte Weise praktizieren kannst, lies bitte weiter.
Wie praktiziert man am besten eine stehende Vorwärtsbeuge im Yoga?
Aus biomechanischer Sicht ist das Dehnen der Oberschenkelmuskulatur für die große Mehrheit der Menschen nicht vorteilhaft. Der Asana-Name Uttanasana (Uttana = stark gedehnt) deutet jedoch darauf hin, dass wir in dieser Haltung eine tiefe Dehnung erfahren sollen. Wie wäre es, wenn wir stattdessen einen Bereich unseres Körpers dehnen würden, der bei eigentlich allen Erwachsenen zu viel Verspannung aufweist: den unteren Rücken!
Eine Dehnung des unteren Rückens in Uttanasana kann erreicht werden, indem die Knie kräftig gebeugt werden und das Becken so weit wie möglich nach hinten gekippt wird. Dadurch sollte der untere Rücken eine Rundung bekommen, wodurch die Muskeln im unteren und mittleren Rücken gedehnt werden. Zusätzlich kann durch das Zurückkippen des Beckens eine Aktivierung der Oberschenkelmuskulatur in dieser Position erreicht werden. Das bedeutet, dass Uttanasana nun dazu verwendet wird, die Oberschenkelmuskulatur zu kräftigen, anstatt sie zu verlängern. Die Stärkung der Oberschenkelrückseitenmuskulatur ist für die meisten Menschen äußerst wichtig, um Rückenschmerzen zu reduzieren oder ihnen vorzubeugen, die Beweglichkeit zu verbessern und eine gesunde Körperhaltung wiederherzustellen.
Selbst für Yogapraktizierende mit einem Rundrücken empfehle ich diese Variation, da Menschen mit einem Rundrücken normalerweise eine Dehnung der Rückenmuskulatur, insbesondere im mittleren Rückenbereich, benötigen. Diese Dehnung kann durch diese Variation von Uttanasana erreicht werden. Der einzige Unterschied, den ich für Praktizierende mit einem Rundrücken und solchen mit einem starken Flachrücken mache, besteht darin, dass ich sie dazu ermutige, sich in dieser Position mehr zu bewegen, indem sie die Beugung der Knie und das Kippen des Beckens variieren. Vor allem das Beckenkippen ist bei diesen Personen oft eingeschränkt und kann in dieser Variante von Uttanasana mit gebeugten Knien auf effektive Weise geübt werden. Dabei muss der/die Praktizierende die Kontrolle über die Bein- und Rumpfmuskulatur nutzen, um das Becken langsam und kontrolliert nach vorne und hinten zu kippen. Der Fokus sollte darauf liegen, dass die Knie und Füße stabil bleiben und nicht nach außen oder innen abkippen. Auf diese Weise kann die Länge der Oberschenkelrückseitenmuskulatur aktiv variiert werden. Die Dehnung der Muskeln geht somit Hand in Hand mit der Kräftigung einher. Dies kann äußerst hilfreich sein, um die Reaktionsfähigkeit der Oberschenkelmuskulatur wiederherzustellen.
Was ist, wenn ich keine Dehnung im Rücken spüre?
Sehr häufig höre ich von neuen Schülern, dass sie in dieser Variation von Uttanasana keine Dehnung im Rücken spüren, selbst wenn sie die Knie kräftig beugen und den unteren Rücken rund machen. Falls dies auch auf dich zutrifft, benötigt dein Körper diese Variation vermutlich besonders dringend. Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich berichten, dass das Ausbleiben einer Dehnung in der Regel dann vorkommt, wenn unser Rücken über einen langen Zeitraum hinweg stark verspannt war. In diesem Fall sind wir möglicherweise nicht in der Lage, das Becken angemessen nach hinten zu kippen, um eine tatsächliche Rundung im unteren Rücken zu erreichen. Sollte dies der Fall sein, empfehle ich dir, weiter zu üben und daran zu arbeiten, die Oberschenkelmuskulatur zu aktivieren und den unteren Rücken auf andere Weise zu entlasten (siehe unten), bis dein Körper dir erlaubt, in die Dehnung des unteren Rückens zu gelangen.
Hier sind nur zwei Beispielvideos für eine alternative Aktivierung der Oberschenkelrückseiten im Yoga und eine effektive Methode, deinen unteren Rücken dabei zu unterstützen, sich horizontal zu öffnen. Wenn du diese beiden Übungen eine Weile lang durchgeführt hast, solltest du mit der Zeit auch in der beschriebenen Variation von Uttanasana eine Dehnung im Rücken spüren können.
Schlussfolgerung
Das Praktizieren von Yoga-Asanas sollte unserem Körper zugutekommen. Wenn wir Uttanasana aus biomechanischer Sicht betrachten, wird klar, dass der Schwerpunkt unserer Vorwärtsbeugen nicht auf der Dehnung der Oberschenkelrückseiten liegen sollte, sondern vielmehr auf der Dehnung des unteren und mittleren Rückens. Dies kann erreicht werden, indem die Knie großzügig gebeugt werden und das Becken durch Aktivierung der Oberschenkelrückseitenmuskulatur und der Bauchmuskeln nach hinten gekippt wird. Dies mag zu Beginn etwas ungewohnt und weniger vertraut erscheinen (schließlich genießen viele von uns das Dehnungsgefühl in den Oberschenkelrückseiten!), wird jedoch erhebliche körperliche Vorteile mit sich bringen, wie z. B. Linderung oder Vorbeugung von Rückenschmerzen, Steigerung der Beweglichkeit und Wiederherstellung einer insgesamt besseren Haltung, um Schmerzen in anderen Körperbereichen zu reduzieren oder zu vermeiden.
Meine Einladung an dich, insbesondere wenn du Yogalehrer bist, ist, offen für die Möglichkeit zu sein, die klassischen Yoga-Asanas auf neue Weisen zu erleben. Auf diese Weise können wir das traditionelle Yoga-Wissen in Einklang mit modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen bringen. Probiere diese Variation aus und teile mir gerne in den Kommentaren mit, wie sich diese Variante für dich anfühlt und welche Gedanken du dazu hast.