Die Kunst der kontrollierten Rückbeuge – Stabilität, Länge und myofasziale Balance
Rückbeugen im Yoga öffnen unseren Brustkorb, beleben die Wirbelsäule und schenken uns ein Gefühl von Weite. Allerdings ist es wichtig, beim Praktizieren die tieferliegenden anatomischen Prinzipien zu beachten. In diesem Blogartikel schauen wir uns das myofasziale Zusammenspiel entlang der Körpervorder- und rückseite sowie die Stabilisierung durch die Rumpfmuskulatur und das Becken näher an.
Rückbeugen – mehr als „Hohlkreuz machen“
Besonders bei Yogaanfängern wird die Rückbeuge oft überstreckt aus der Lendenwirbelsäule ausgeführt – mit Kompression der Lendenwirbel und wenig funktioneller Länge in der vorderen Faszienlinie. Biomechanisch betrachtet geht es jedoch nicht darum, „so weit wie möglich nach hinten“ zu kommen. Vielmehr gilt es, über gezielte Beckenaufrichtung, Rumpf-Ansteuerung und myofasziale Öffnung eine nachhaltige, tragende Rückbeuge zu etablieren, die insbesondere die Extension der Brustwirbelsäule erreicht.
Gerade die tiefe frontale Faszienlinie (Deep Front Line) – mit Iliopsoas, Zwerchfell, Transversalis abdominis und Beckenboden – ist entscheidend, um Rückbeugen als integrierte Bewegungserfahrung zu ermöglichen.
Biomechanische Prinzipien bei Rückbeugen
- Beckenorientierung: Das bewusste Nach-hinten-Kippen des Beckens (posterior tilt) OHNE Anspannung der großen Gesäßmuskulatur (Gluteus major) schützt die Lendenwirbelsäule, verlängert den unteren Rücken und schafft Raum für eine aufrichtige Rückbeuge.
- Rumpf-Aktivierung als Schutz: Der tiefe Bauchraum (insbesondere der Transversus Abdominis) wirkt wie ein inneres Korsett. Eine subtile Ansteuerung des unteren Bauchs, was am einfachsten durch ein leichtes Einziehen des Bauchnabels in Richtung Wirbelsäule erreicht wird, sorgt dafür, dass du auch in der Rückbeuge Länge in der Lendenwirbelsäule beibehältst.
- Myofasziale Balance: Die Lendenwirbelsäule befindet sich bereits auf natürliche Weise in einer „Rückbeuge“. Aus diesem Grund sollte eine Yogarückbeuge immer bewusst aus der Brustwirbelsäule initiiert werden, um die Öffnung der vorderen Faszienlinien (Brustkorb, Oberschenkelvorderseite, Leistenregion) zu erreichen, ohne dass dabei die rückseitigen Strukturen wie der untere Rücken in die Kompression geraten.
Fokus-Übungen aus der Praxis
Ich habe dir eine 90-minütige Yogaeinheit zum Thema Rückbeugen aufgenommen, in der wir tief in das Thema einsteigen:
Falls du gerade keine Zeit für eine ganze Yogastunde hast, findest du hier eine Auswahl an zentralen Übungen aus der Stunde, die exemplarisch die biomechanischen Themen umsetzen:
1. Rückbeuge im oberen Rücken in der Kindsposition
- Komme mit den Knien auf den Boden, die Füße berühren sich, die Knie haben etwas mehr als hüftbreit Abstand.
- Halte 2 Blöcke bereit und lehne dich mit dem Oberkörper nach vorne, wie in eine Kindsposition. Unter deinen Händen stellst du jeweils einen Block in die 2. Position auf.
- Drücke deine Handaußenseiten in die Blöcke. Deine Arme sind gestreckt.
- Der Kopf ist angehoben und schaut nach vorne.
- Bringe Kinn und Brustbein in Richtung Boden.
- Bleibe hier für 4–6 Atemzüge. Dann komme zurück in einen herabschauenden Hund, bevor du in eine zweite Runde kommst.

Wirkung: Sanfte Rückbeuge im oberen Rücken
2. Salabhasana (Rückbeuge in Bauchlage)
- Komme in die Bauchlage.
- Bringe die Hände an die Seite deines Körpers und drehe die Handflächen nach unten
- Orientiere deine Schultern zum Boden und lege auch deine Stirn am Boden ab
- Aktiviere sanft die Bauchmuskeln
- Hebe nun die Beine leicht vom Boden ab, presse die Hände, Schultern und Stirn in den Boden.
- Halte hier für 2–3 Atemzüge, dann lege die Beine wieder am Boden ab.
- Bewege dein Becken sanft hin und her, um Spannungen zu lösen, nimm einige Atemzüge, dann starte in eine 2. Runde:
- Löse erneut die Beine vom Boden und versuche nun auch, die Oberschenkel vom Boden zu lösen. Nimm dazu, falls nötig, die Beine etwas breiter.
- Halte für 2–3 Atemzüge, dann lege die Beine wieder am Boden ab.

3. Kamel mit progressiver Tiefe
- Komme in den Kniestand, die Knie hüftbreit entfernt. Aktiviere leicht die Bauchmuskeln und rolle das Becken nach hinten unten
- Platziere 2 Blöcke auf Höhe deines rechten Knöchels, der untere liegt flach auf dem Boden, der obere ist in der höchsten Position darauf aufgestellt.
- Bringe die Fingerspitzen der rechten Hand auf die Blöcke hinter dir, die Finger sind dabei nach hinten orientiert, der Daumen zeigt zu dir.
- Rolle hier die Schulter nach hinten, das Brustbein orientiert sich nach vorne, oben. Dein Becken nicht nach vorne schieben, sondern die Bauchmuskeln aktivieren.
- Strecke den linken Arm gerade nach oben. Eventuell merkst du, dass du tiefer in die Rückbeuge kommen kannst, während dein Becken über den Knien ausgerichtet bleibt, und du mit der rechten Hand näher zum Block kommst.
- Halte diese Position für 4–5 tiefe Atemzüge.

- Komme kurz zurück in eine neutrale Haltung und gehe dann in die zweite Runde: wiederhole die Übung wie gehabt, oder, falls du sehr beweglich im Rücken bist, kannst du nun die Blöcke nach Belieben anpassen. Verwende nur einen Block oder lege den ober Block flach hin. Falls du sehr tief kommst, kannst du dich auch statt auf dem Block auf deinem Hacken abstützen.
- Falls du mit einem Block auf dieser Seite auskommst, versuche den anderen Block auf die andere Seite aufzustellen und auch mit der linken Hand nach hinten zu reichen.
- Welche Variante auch immer für dich passt, bleibe hier für weitere 3–4 tiefe Atemzüge, dann wechsle die Seiten.
Wirkung: Aktive Rückbeuge mit Rumpf-Stabilität, Öffnung von Hüftbeugern und Brustkorb, Differenzierung der Beckenausrichtung.
4. Liegende Beckendehnung & Regeneration
- Lege dich auf den Rücken, stelle die Füße an den Mattenseiten auf, deine Arme streckst du zu den Seiten oder leicht nach oben aus
- Lasse jetzt langsam deine Knie von links nach rechts schwingen. Die leichten Schaukelbewegungen sorgen für sanfte Mobilisierung im unteren Rücken.
- Bleibe dann auf der linken Seite. Lege deinen linken Fuß auf die Außenseite deines rechten Knies und lass dich schwer werden.
- Genieße die Dehnung für 5–6 Atemzüge, dann wechsle die Seiten.

Wirkung: Sanfte Dehnung der Iliopsoasmuskelgruppe und Regeneration nach Rückbeugen.
5. Unterstütztes Supta Baddha Konasana
- Lege dich auf den Rücken. Hier hast du 3 Möglichkeiten:
1. Bringe die Fußsohlen zusammen und greife deine gegenüberliegenden Ellenbogen über dem Kopf und genieße ein klassisches Supta Baddha Konasana.
2. Falls dein unterer Rücken sich bemerkbar macht: leg dir im Supta Baddha Konasana 1 oder sogar 2 Blöcke unter die Knöchel, um dem Rücken die Möglichkeit zu geben, tief in den Boden zu sinken.
3. Bringe einen oder sogar 2 Blöcke unter dein Becken, bringe deine Fußsohlen zusammen und greife deine gegenüberliegenden Ellenbogen über dem Kopf und genieße durch die Blöcke in dieser Position eine weitere leichte Rückbeuge - Bleibe hier für 6-8 Atemzüge.

Wirkung: Regeneration der tiefen Frontlinie, sanfte Rückbeuge in entspannter Haltung mit Dehnung der Iliopsoasmuskelgruppe, Integration.
Fazit: Rückbeugen mit Bewusstheit statt Ehrgeiz
Rückbeugen sollten als funktionelle Ausdrucksform, statt als ästhetisches Ziel gesehen werden. Durch bewusste Beckenausrichtung, kontrollierte Rumpf-Aktivierung und feine myofasziale Längung entsteht eine Rückbeuge, die nicht nur stabil, sondern auch regenerierend wirkt. Statt dem „Nach-Hinten-Lehnen“, geht es um ein Aufrichten nach oben – aus der Tiefe, aus der Mitte, aus der Verbindung mit dem Atem.
Wenn du merkst, dass du während der Praxis den Atem halten musst oder Verspannungen im unteren Rücken spürst, ist das ein klares Zeichen, einen Schritt zurückzugehen – und mit mehr Bewusstheit und Integrität zu arbeiten.